Liebe oder Krieg? Das Doppelgesicht der Religion

Erschienen im Picus-Verlag, Wien 2005
In der Reihe „Wiener Vorlesungen“

Textauszüge aus dem Buch:

Religion hat einen zweifelhaften Ruf. Sie kann eine Quelle von Liebe und Frieden sein, aber auch von Hass und Krieg. Die Gläubigen verteidigen sie, Opfer religiöser Gewalt und Beobachter dieses grausamen Geschehens wollen mit ihr nichts zu tun haben. Die Wissenschaften suchen die objektive Distanz, um herauszufinden, welches Gesicht Religion wirklich hat oder aus welchen Gründen sie dieses wechselt. Wenn Religionspsychologie und Theologie zusammenarbeiten, können sie dafür plausible Ursachen entdecken, die das finstere Gesicht der Religion nicht auf das herkömmliche moralische Urteil zurückführen, dahinter stehe allein die böse, religiös verbrämte Absicht macht- und geldgieriger Menschen.

Das Pendel der Extreme

Was Religion bewirken oder anrichten kann, zeigt sich in den Extremen: Auf der einen Seite finden sich religiös motivierte Menschen, unter ihnen solche, die als Heilige gesehen werden: Franz von Assisi mag als Beispiel für sie stehen. Viele sind imstande, eine besondere Atmosphäre zu verbreiten wie Johannes XXIII.; über ihn, damals Nuntius in Frankreich, sagte Robert Schumann, damals französischer Außenminister, er sei der einzige „Mann in Paris“, in dessen Gegenwart man die „physische Empfindung von Frieden1 verspüre. Viele haben Widerstand gegen Gewalt und Menschenverachtung geleistet: Der Hindu Mahatma Ghandi gegen die britische Besatzungsmacht in Indien, der sich auch von der christlichen Bergpredigt inspirieren ließ, Dietrich Bonhoeffer gegen das Nazi-Regime, Martin Luther King gegen den Rassismus in den USA oder Mutter Theresa gegen mitmenschliche Gleichgültigkeit angesichts von Leiden und Sterben. Ihnen allen ist gemeinsam, dass ihr Widerstand religiös motiviert war und jede Gewaltanwendung vermied. Erstaunliche Werke der Liebe und Barmherzigkeit sind unter ihren Händen aufgeblüht. Diese Geisteshaltung findet sich nicht nur im Rückblick auf die Geschichte und durchaus in allen Religionen.

Auf der anderen Seite lehrt diese Geschichte, dass Religion besonders grausame Kriege verursacht hat und Menschenverachtung im religiösen Gewand erschreckende Ausmaße annehmen konnte, wenn z.B. die römische Inquisition vermeintliche Ketzer und Hexen bei lebendigem Leib verbrannte. Diese Entgleisungen sind zwar im Raum der christlichen Religion Vergangenheit, aber das Rätsel bleibt, warum so etwas überhaupt möglich sein konnte. Kriege im Namen Gottes tobten zwischen Christen und Muslimen und nicht weniger zwischen Christen unterschiedlicher Konfession oder unter den Muslimen verschiedener Richtungen. Religionen und Weltanschauungen traten als unfehlbar auf und führten ihren Vernichtungskampf unter der Flagge der Gerechtigkeit. Über Massaker, Folter und Selbsttötung um des Heiligen willen wird beinahe täglich in den Zeitungen berichtet. Dieses andere Gesicht der Religion lässt nichts zu als den eigenen Glauben und den eigenen Gott, dem alle anderen Menschen, die anders glauben, mit - angeblicher - Berechtigung zum Opfer gebracht werden.
Religion, so scheint es, hält das Pendel der Radikalität in Bewegung. Woher kommt dieses Doppelgesicht der Religion? Woran liegt es, dass die tiefste Überzeugung von Menschen solche Extreme hervorbringen kann? Wie ist es möglich, dass ausgerechnet der Glaube daran, dass diese Welt und die Geschicke der Menschheit von göttlicher Liebe getragen sind, in so viel verzweifelten Hass umschlagen kann? ...

Der 11. September 2001: Wie kann es zu so etwas kommen?, fragen sich Pyszczynski, Solomon und Greenberg, die Beckers Hypothesen durch empirische Forschungen stützten,2 unter dem Gesichtspunkt der Terror Management-Theorie.3 Über Batson hinausgehend, stellen sie nun einen hierarchischen Stufenplan der Eskalation auf, den allerdings nicht alle bis zum Ende durchlaufen müssen: Die Begegnung mit einem alternativen Glauben könne zur Konversion führen, zum Überlaufen ins andere Lager, was aber selten vorkommt. Die meisten begnügen sich mit Verteidigung der eigenen Überzeugung und Herabsetzung der anderen. Der nächste Schritt besteht im Versuch der Missionierung, der weitere in einer Integration des anderen Glaubens in den eigenen durch eine Umdeutung des anderen; einzelne Elemente werden dort herausgelöst und in einem entschärften Sinne ins eigene System integriert. Alle diese Formen des Umgangs sind ohne Zweifel auch alltäglich zu beobachten. Wenn aber alles das nicht gelingt, kommt es zu drastischeren Mitteln: Die anderen werden mit ’dem Bösen‘ identifiziert, verfolgt und getötet.

Daraus ergibt sich ein interessanter, plausibler Perspektivenwechsel. Bei kriegerischen Aktionen und Terroranschlägen wird in der Regel über den Missbrauch von Religion für politische oder wirtschaftliche Zwecke geklagt, als stehe dahinter nichts anderes als eine bewusste böse, gierige Absicht. Aus der Sicht der Terror Management-Theorie zeigt sich ein anderes Bild: Solche Gewaltakte sind primär ein psychologisches Phänomen, das sich aus der intensiven Identifikation mit einer Religion oder Weltanschauung ergibt, während die handfesten Interessen ein sekundäres Moment darstellen. Denn nur durch diese innere Psychodynamik lässt sich die Intensität der Emotionen, der gewaltige Hass erklären, der gar nicht mehr imstande ist, Interessen abzuwägen und den Preis zu bedenken, der dafür bezahlt wird und sogar im feiwilligen Tod bestehen kann. Was den inneren Terror der conditio humana managen soll, produziert in der Abwehr realen Terror nach außen. Der Glaube hätte ja dem Tod den Stachel nehmen sollen, und wenn der Tod nun gesucht wird, kann das nichts anderes heißen, als dass Menschen um jeden Preis versuchen, eine Bedeutung aufrecht zu erhalten, um nicht umsonst gelebt zu haben und für etwas gestorben zu sein. Nach Becker erfahren sich solche Menschen als „Heroen der Todesverleugnung“4. Wiederum ist es die Religion, die verführt. ...

Gerade wegen der Versuchungen, denen die Religion aussetzt, sollte auch die Gesellschaft Interesse daran haben, die Religion nicht aus dem Vernunftdiskurs zu entlassen. Die Vorstellung der Aufklärung in ihrer religionskritischen Variante, dass Religion eines Tages keine Rolle mehr spielen würde, wird gerade durch gegenwärtige politische Erfahrungen widerlegt. Wenn aber nicht mehr geschieht, als die terroristischen Auswüchse des religiösen Fanatismus zu bekämpfen, geht darüber das Bewusstsein für die lebenserhaltende Kraft religiöser Ganzheitsvorstellungen verloren. Dann wird jener gefährliche Kreislauf in Gang gesetzt, den die Terror Management-Theorie schildert: Menschen, die den Sinnrahmen ihres Glaubens verteidigen, sehen sich immer stärkerer Bedrohung ausgesetzt und reagieren darauf mit immer radikalerem Widerstand. Gegen diese Eskalation hilft nur der Respekt vor Religion und die geduldige Auseinandersetzung der Vernunft mit religiösen Vorstellungen.

Kirchliche Lehre und Verkündigung haben immer auch die gefährliche Sucht nach idealen Verhältnissen genährt, aus Angst, die Menschen könnten sich von Gott befreien wollen und abhängig werden von ihren irdischen Bedürfnissen. Das Gegenmodell macht freilich nicht weniger abhängig, denn auch die Verleugnung aller Bedürfnisse lässt Menschen nichts Besseres hervorbringen. Aber die Religionspsychologie hat plausibel gemacht, dass die Gefahrenquelle woanders zu suchen ist. Die Chance, das Doppelgesicht der Religion zu beenden, liegt im Erkennen von psychischen Mechanismen und Mustern, um nicht mehr in solche Fallen zu tappen und einen anderen, bewussten und reflektierten Umgang damit zu finden. Daher befindet sich die Theologie auch in einem kritischen Spannungsverhältnis zu kirchlichen Strategien des Umgangs mit Menschen. Theologie als Vernunftdiskurs steht kirchlicher Politik ähnlich gegenüber wie die Politologie dem politischen Handeln und sollte ein Korrektiv ohne Macht und Abhängigkeit sein, eine Quelle der Einsicht, wenn auch ohne Anspruch auf Vollkommenheit.

Das Ganze und Heile im Auge behalten und dennoch in die Brüchigkeit des Lebens einstimmen, das ist die befreiende Wirkung religiöser Überzeugung im Rahmen der Vernunft. Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer wusste sich "Von guten Mächten wunderbar geborgen", als er wenige Tage vor Kriegsende, am 9. April 1945, seiner Hinrichtung durch das Nazi-Regime entgegenging. Aber das kann nicht von allen erwartet werden. Die Reaktionen von Feindseligkeit und Terror sind, wie Geschichte und Gegenwart zeigen, um vieles wahrscheinlicher. Daher braucht es auch eine verantwortliche Politik, die Menschen nicht zum Äußersten treibt, um sie nicht den Versuchungen der Religion auszuliefern.

Anmerkungen

  1. Willibald Feinig, Vergessener Gesandter. Denkmal für Johannes XXIII, Salzburg 2004, 12.
  2. Vgl. z.B.: J.Greenberg / S. Solomon / Th. Pyszczynski, Terror Management Theory of Self-Esteem and Social Behavior. Empirical Assessments and Conceptual Refinements, in: M.P. Zanna, ed., Advances in Experimental Social Psychology, New York 1997, 61-139.
  3. Th. A. Pyszczynski / S. Solomon / J. Greenberg, In the Wake of 9/11. The Psychology of Terror, Washington 2003.
  4. Becker, 123ff.