Gedanken für den Tag
Anja
Keine Geschichten für Kinder
In der Ö1-Sendung "Gedanken für den Tag" hat die Autorin 48mal
von Anjas alltäglichen und hintergründigen Fragen erzählt.
Jetzt kann man diese Gedanken in einem Buch nachlesen.
Erschien im Verlag Tyrolia im März 2001.
Die Buchpräsentation war im Radio Café, Argentinierstaße 30A, 1040 Wien
am 29. März 2001, 19:00 Uhr.
Lebenssinn ist ein großes Wort, aber gebraucht wird er im Alltag.
Kann man ihn erst ergründen, wenn man alt und erfahren ist?
Schon Kinder wollen einfache Antworten auf schwierige Fragen.
Anja, fünf Jahre alt, fragt; aber die Mutter antwortet nicht sofort.
Zu viele Widerstände, Einwände, Ausflüchte drängen sich auf.
Aber sie weicht nicht aus; jede Kinderfrage schenkt ihr eine Einsicht.
Deshalb sind die Geschichten von Anja keine Geschichten für Kinder.
Sie erzählen von der Erkundung möglicher Antworten.
Sie lösen eine Kettenreaktion von Aha-Erlebnissen aus,
wecken verdrängte Fragen, inspirieren zu Entdeckungen.
Der Alltag ist voll von Antworten, die sich noch versteckt halten
Inhaltsverzeichnis
Alles, was lebt
- Es muß gesagt werden
- Geschöpfe Gottes
- Sogar die Maus
- Nicht nur Vater
- Etwas Wichtiges
- Verschwendung
Leid und Leidenschaft
- Nicht erlaubt
- Gewaltsame Liebe
- Einander verzehren
- Bedrohliche Wünsche
- Das Rätsel teilen
- Fürchte dich nicht
Was morgen sein kann
- Keim einer neuen Welt
- Hase mit Engel
- Kleiner Vorgeschmack
- Himmliches Kleid
- Ein Entwurf
Geist und Ungeist
- Komm bald
- Geprüftes Vertrauen
- Zumutungen
- Planeten und Pfingstrosen
- Ansteckungsgefahr
In die Freiheit
- Jetzt leben
- Zerreißproben
- Zur Sicherheit
- Ein Hauch Ewigkeit
- Wer ernten will
- Nicht ohne Gepäck
- Verbundensein
Abschied nehmen
- Herbstwind
- Zuviel Licht
- Gehen lassen
- Letzte Hoffnung
- Nicht zu glauben
- Zwei Gesichter
Erwartung und Ankunft
- Zwei in der Krippe
- Trost des Aufschubs
- Glitzer und Glanz
- Unscheinbare Verpackung
- Väter zur Wahl
- Böses im Spiel
- Schatten der Weihnacht
Zeit der Wende
- Nichts bleibt beim Alten
- Kunst des Übergangs
- Für eine Weile
- Nicht immer die Fülle
- Verschüttete Leidenschaft
- Zeichendeuten
Keine Geschichten für Kinder
Fragen, meinte Oscar Wilde, sind nie indiskret, Anworten bisweilen. Das muß man Kindern zugute halten, die sich nicht scheuen, das Selbstverständlichste wie das Komplizierteste zu fragen, wenn sie einmal entdeckt haben, daß Fragen ein praktischer Weg sein kann, hinter das Geheimnis von Dingen, Zuständen und Ereignissen zu kommen.
Die Angefragten sind in einer viel schwierigeren Lage. Haben die Erwachsenen das Antworten gelernt wie die Kinder das Fragen? Sie wissen über die Jahre, wie viele Fragen unbeantwortet bleiben und wie viele Antworten auf dem Markt sind, nach denen niemand gefragt hat. Deshalb bedeutet es eine ernste Herausforderung, auf naive Fragen ehrliche Antworten zu suchen. Antworten auf nicht gestellte Fragen sind leicht bei der Hand; aber von noch nicht bedachten Fragen zu brauchbaren Antworten zu kommen das ist ein Hindernislauf zwischen Widersprüchen und Einwänden, abwehrenden Emotionen und leichten Ausflüchten.
Dieser Hindernislauf ist das Thema der Geschichten von Anja. Deshalb sind sie keine Geschichten für Kinder, die zwar ein treffsicheres Gefühl für die Redlichkeit von Antworten haben, aber nicht ermessen können, was zwischen Frage und Antwort abläuft. Denn die einfachsten Fragen nach Gott und der Welt brauchen zur Beantwortung einen raschen Durchlauf durch die eigene Lebenserfahrung ebenso, wie durch die Weisheit der Bibel und die Denkmühe der Theologie; und was schließlich herauskommt, soll kinderleicht zu verstehen sein und dennoch vor dem Gericht der Tradition bestehen können.
Die Geschichten von Anja wollen den Prozeß hörbar machen, der sich zwischen Frage und Antwort abspielt. Es sind knappe Texte, da sie fürs Radio verfaßt wurden, für die Ö1 Sendung Gedanken für den Tag. Was da jeweils in den drei Minuten vor den Morgennachrichten durch den Äther rauscht, hat viel mit den kurzen Gesprächen zu tun, die sich zwischen Mutter und Kind abspielen und mitten in alltägliche Handgriffe hineinplatzen. Da ist nicht lange Zeit für wortreiche Expertisen und langatmige Rückfragen. Die Antworten müssen kurz und plausibel sein und einer wechselnden und abgelenkten Aufmerksamkeit standhalten. Wie komplex das Thema auch ist, verlangt es doch eine einfache Form und zugleich danach, eine tiefere Schicht anzusprechen, in der sich Sinnorientierung bildet. Daraus entstand die Idee, Kinderfragen als Rahmen zu wählen und den geistigen Prozeß nachzuzeichnen, der in der oft überraschten Mutter abläuft. Dabei entdeckt sie, daß die Kinderfragen im Grunde ihre eigenen Fragen sind, die sie nicht mehr zu stellen gewagt hatte. Ihre Antworten kommen nicht aus einem angelernten Schulwissen, sondern sind für sie selbst eine Entdeckungsreise in eine spirituelle Welt.
Die Geschichten von Anja sind auch Frauengeschichten zwischen Mutter und Tochter, in denen die Abwesenheit der Männer und Väter manchmal schmerzlich erlebt wird. Denn auch danach fragt Anja bisweilen mit Wut oder aus Resignation. Die Geschichten präsentieren keine heile, sondern eine realistische Welt als den Boden, aus dem die Fragen herauswachsen und immer wieder auch die tröstenden Antworten. Die Reaktionen auf die Sendung zeigen, daß sich auch Männer in solche Fragen hineinnehmen lassen.
Die Themen und Anlässe für die Geschichten von Anja sind aus dem christlichen Festkalender und aus dem Rhythmus der Jahreszeiten gewonnen: Passion und Ostern, Pfingsten und Totengedenken, Advent und Weihnachten, Jahreswende, Frühling, Sommerferien und Herbst. In diesen Kreis wurden aktuelle Ereignisse eingewoben wie etwa der Krieg im Kosovo. Auch hier geht es darum nachzuzeichnen, wie Fragen des Glaubens aus der Begegnung mit einem Leben entstehen, wie es tatsächlich gelebt wird. Antworten sind bisweilen indiskret, wenn sie die Frage nicht ernst nehmen. Die Geschichten von Anja sind ein Versuch, diskret zu sein.
Sogar die Maus
Bitte, bitte, darf ich sie behalten?, bettelte Anja und hielt krampfhaft einen Karton in der Hand, in dem eine weiße Maus rumorte, die eine Freundin ihr geschenkt hatte.
Die Mutter seufzte und malte sich schon die Folgen aus: Wir brauchen einen Käfig, ein Haus, damit die Maus sich verstecken kann, einen Wasserspender, ja und noch ein Laufrad, damit das arme Tier Bewegung hat. Sie überschlug die Kosten und kam auf etwa 600 Schilling. Merkwürdig, dachte sie, die lebendige Maus kostet nichts, aber verursacht eine Menge Ausgaben. Da kam ihr unvermittelt in den Sinn, daß das bei ihrer Anja genauso gewesen ist. Eine verkehrte Welt, dachte die Mutter empört. Das Leben ist so kostbar und teuer und kostet nichts, aber der ganze andere Plunder, Gitterbett, Kinderwagen, Spielzeug, muß teuer bezahlt werden.
Ob wir deshalb das Leben so wenig achten, fragte sich die Mutter, weil es nichts kostet? Ob wir deshalb so leichtfertig mit dem Leben anderer, auch mit dem eigenen Leben spielen? Sie fühlte sich plötzlich überwältigt von der Vorstellung, wie verschwenderisch die Natur ist, wie sie ununterbrochen Leben hervorbringt. Aber plötzlich begannen sich ihre Gedanken ins Gegenteil zu verkehren. Die Mutter fand die Natur brutal, weil sie Leben schafft, ohne die Folgen zu bedenken, und in einem Ausmaß, daß wir uns sogar davor schützen müssen. Irgendwie ist das des Kostbaren auch zu viel, und was in zu großer Menge vorhanden ist, entwertet sich selbst.
Die Mutter erschrak vor ihren eigenen Gedanken und suchte nach einem Grund, Leben dennoch für kostbar zu halten, nach einem Grund, der jedem Lebewesen seine Existenzberechtigung und den Menschen ihre Würde bewahrt. Und sie konnte keinen anderen Grund finden als Gott, der die brutale Natur in eine gewollte Schöpfung verwandelt, wie sie selbst ihre Anja zuletzt doch gewollt hatte. Zu Anja sagte die Mutter: Natürlich behalten wir die Maus, und sie bemerkte: Ich will das Tier auch.